Es hatte in der Nacht geregnet. Der Boden war weich und erschwerte den Reitern und Armbrustschützen das Vorankommen. Philipp der VI., König von Frankreich, war sich dennoch sicher, dass er die Engländer an diesem denkwürdigen Sommertag im Jahr 1346 in die Flucht schlagen würde. Seine Armee war mindestens doppelt so groß wie das von Eduard dem III. aufgestellte Heer. Es sollte anders kommen. Als die Sonne unterging, hatte über die Hälfte der 25.000 französischen Soldaten ihr Leben verloren. Der Rest befand sich auf einem ungeordneten Rückzug. Was die englische Seite betrifft, sind sich die Historiker nicht einig. Es wird geschätzt, dass nur etwa 100 Soldaten starben.
Was war geschehen?
Am besagten Sommertag standen sich im französischen Crécy nicht nur zwei feindliche Armeen gegenüber, sondern zwei völlig gegensätzliche Strategien, flankiert von Technik, die unterschiedlicher nicht hätte sein können.
Zum Auftakt der Schlacht schossen die französischen Armbrustschützen eine geordnete Salve auf die englischen Reihen. Kein einziger Schuss traf. Die Engländer waren zu weit entfernt und während die französischen Armbrüste wieder gespannt wurden, begannen die englischen Langbogenschützen ein unvergleichliches Massaker. Die 4.000 Schützen waren in der Lage, 20.000 bis 60.000 Pfeile pro Minute abzufeuern. Das Spannen ihrer Langbögen funktionierte in Sekunden. Die Reichweite war außerdem deutlich höher. Nach den ersten Salven begann eine panische Flucht der überlebenden Armbrustschützen. Während die Offiziere auf französischer Seite versuchten, die Flucht ihrer Soldaten zu stoppen, ließ Phillip VI. seine hochgerüsteten Ritter die erste Attacke reiten.
Der englische König hatte seine Ritter absitzen lassen, positionierte sie inmitten seiner Bogenschützen und nutzte so deren Erfahrung und Ruhe zur Stabilisierung der Kampfmoral. Zusätzlich hatte er angespitzte Holzpfähle vor die Reihen seiner Soldaten im Boden verankern lassen. Die französischen Reiter stürmten in eine Falle. Die Überlegenheit der Langbögen war gewaltig. Die Pfeile durchschlugen die schweren Rüstungen mit Leichtigkeit. Wenn die Anstürmenden nicht bereits durch Pfeile der Langbogenschützen getroffen waren, wurden sie von Holzpfählen oder Lanzenträgern aufgespießt. Den verletzten oder vom Pferd gefallenen, schwerfälligen Rittern wurden ihre Rüstungen zum Verhängnis. Nahezu unbeweglich wurden sie ein Opfer der englischen Ritter. Es war ein unvorstellbares Blutbad.
Nach 1.000 Jahren Ritterschaft brach an diesem Tag ein neues Zeitalter an.
Was hat das mit uns zu tun?
Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir momentan eine ähnliche geschichtliche Wende erleben. Ich erkenne in vielen Handlungen und Aussagen von Politikern, Unternehmern, Nachbarn, Bekannten und Familienangehörigen ein massives Festklammern an Traditionen, bestehenden Strukturen und Regelungen, die für die Gestaltung unserer Zukunft ungünstig sind. Der Glaube, dass wir die täglich neu aufkommenden Herausforderungen mit den immer gleichen Lösungsmustern bewältigen könnten, hält sich hartnäckig wie der Glaube an die Wirksamkeit einer Ritterrüstung. Wie sagte Albert Einstein so treffend? „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
Der Klimawandel wird trotz klarer wissenschaftlicher Belege geleugnet. Die Angst vor islamischen Terroranschlägen ist gewaltig, obwohl in Deutschland das Risiko, bei einem ganz normalen Mittagessen zu ersticken, zwanzigmal höher ist als bei irgendeinem Terroranschlag zu sterben. Die katholische Kirche tut sich auch im Jahr 2019 noch schwer damit, Homosexualität als Lebensrealität anzuerkennen und weigert sich weiterhin standhaft, das Zölibat aufzuheben.
Was soll das alles?
Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass wir uns in unserer Ignoranz jeden Morgen die Ritterrüstung überziehen, uns von unserem Knappen aufs Pferd hieven lassen und dann mit einem fröhlichen „Heute werden wir´s den Engländern zeigen!“ auf den Lippen von dannen reiten. Der Unterschied ist allerdings, dass wir im Gegensatz zum Jahr 1347 mittlerweile in der Lage wären, die Aufstellung der englischen Truppen über Google Maps zu analysieren und uns deren Waffen ganz genau im Vorfeld anschauen könnten. Außerdem würden wir im Internet mindestens zehn verschiedene Einschätzungen zur englischen Kriegsstrategie finden und eine ganze Reihe von Podcasts und YouTube Videos angeboten bekommen, in denen französische Soldaten von ihren persönlichen Erfahrungen im Feindkontakt berichten. Und tatsächlich denke ich, dass es genau das ist, was den tradierten Strömungen in unserer Gesellschaft Angst bereitet. Die Lebensverhältnisse haben sich massiv verbessert und diese Entwicklung hält an: die Kindersterblichkeit geht kontinuierlich zurück. Es gab noch nie so wenig Analphabeten und noch nie hatten so viele Menschen Zugang zu Bildung und Informationen wie jetzt. Gleichzeitig erhöht sich die Komplexität unserer globalisierten Welt jeden Tag. In solch einem Umfeld schwindet die Macht der Mächtigen. Institutionen und Kulturen verlieren ihren einschüchternden Charakter und damit ihre Wirksamkeit. Natürlich geht dadurch auch bei vielen Orientierung verloren. Es entsteht der Ruf nach einfachen Lösungen. Für mich ist das der offensichtliche Nährboden, auf dem die Trumps, Johnsons und Gaulands gedeihen konnten. Sie glauben noch immer an die Macht eines Ritters und erzählen uns von den vielen Schlachten, die diese Ritter gewonnen haben.
Vor ein paar Tagen las ich auf LinkedIn einen Kommentar, der von jemandem aus der „alten Welt“ stammte. Er hatte auf einen gut recherchierten und sauber formulierten Beitrag zum Stellenabbau von Führungskräften bei Daimler mit einem sehr knappen Satz kommentiert: „Ich wusste nicht, dass Sie Teil einer linkspopulistischen Gruppierung sind.(1)“ Der Satz symbolisiert für mich die oben beschriebene Beharrlichkeit mit voller Wucht. Der Autor des Textes hatte sich viele Gedanken gemacht, Sachverhalte geschildert und dann die aus seiner Sicht logischen Schlussfolgerungen gezogen. Als Antwort erhielt er nun diesen Kommentar. Man kann über die Schlussfolgerungen des Autors geteilter Meinung sein. Dem Kommentator ging es aber augenscheinlich nicht darum, sich intellektuell mit dem Text auseinanderzusetzen, sondern er begnügte sich damit, den Inhalt einer Himmelsrichtung zuzuordnen. Diese Sichtweise, die übrigens aus der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung des 18. Jahrhunderts stammt, ist heute genauso hilfreich für die Herangehensweise an aktuelle Herausforderungen wie die Attacke eines schwer gerüsteten Ritters auf einen Langbogenschützen.
In den nächsten zehn Jahren wird es zu massiven Veränderungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft kommen. Kulturen und Religionen werden ihre Macht zunehmend verlieren. Das bedingungslose Grundeinkommen wird kommen. Produkte wie das Smartphone und der Verbrennungsmotor werden verschwinden. Autos werden autark Menschen und Waren von A nach B fahren. Computer werden viele Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater und andere Berufszweige ersetzen. Muss uns das Angst machen? Auf keinen Fall! In dem jetzigen Wandel hat jeder von uns eine nie dagewesene Chance der Mitgestaltung. Ein einzelner Mensch kann unglaublich viel in Bewegung bringen. Ich sehe nicht nur die große Menge von Entwicklungen, die auf uns zukommt, sondern ich vertraue auch darauf, dass der größte Teil der Menschheit damit verantwortungsvoll umgehen wird. Und irgendwann sind alle Trumps, Johnsons, und Gaulands von der politischen Bühne verschwunden. Die alten Ritterrüstungen sind verschrottet. Dann haben die jungen Wilden mit frischen Gedanken und ganz viel co-kreativer Energie das Sagen. Und wir werden erkannt haben, dass nicht Angst, sondern Liebe die mächtigste Energie auf diesem Planeten ist.
Was kannst Du tun?
Du kannst zwar viel bewegen, aber bestimmt nicht die ganze Welt retten. Es reicht, wenn Du Deine persönliche Wirksamkeit erkennst und sie jeden Tag ein bisschen zum Ausdruck bringst. Sag Deine Meinung. Überlege, wo und was Du einkaufst. Vernetze Dich mit Menschen, die Gutes tun. Schenke destruktiven Menschen einen positiven Gedanken. Traue niemandem, der Dir einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen anbietet. Lass Dich nicht einordnen in eine Farbe (2) oder Himmelsrichtung. Sei dankbar für das, was Du bist und das, was Du hast. Lebe im Moment. Sei achtsam. Unterstütze andere in ihrer Entwicklung. Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.
Fußnoten:
(1) Ich habe den Satz leicht umformuliert, um die darin erwähnte Firma zu schützen.
(2) Außer BRAUN – der Kontakt mit Strömungen dieser Farbe ist dringend zu vermeiden!! :-))