Ich will es besonders gut machen: Als mir bewusst wird, dass die Kreuzfahrt-Route der AIDAblu wie für uns geschaffen ist, gibt es kein Halten mehr. Die Reise soll in Venedig starten, dem Ort unserer Hochzeitsreise. Auch Korfu, unsere Lieblingsinsel, liegt auf der Route und an unserem 25 jährigen Jubiläum werden wir auf See sein, um unsere Zweisamkeit zu genießen. Meine anfängliche Skepsis ist verflogen. Massentourismus? Egal! Umweltverschmutzung? Ich sorge für CO2 Ausgleich! Zerstörung von Venedig? Wird schon nicht so schlimm sein, sonst würden die Stadtväter gegen die Kreuzfahrer etwas unternehmen. Mit egoistischer Blauäugigkeit und romantischen Gefühlen buche ich die Reise.
Die Glasschiebetür öffnet sich. Uns überrollt ein Geräuschpegel aus Musik und Menschen, die durcheinander reden. Die italienische Sonne packt fest zu, als wir aus dem Schutz der Klimaanlage auf das Sonnendeck treten. Überwältigt von der optischen und akustischen Reizüberflutung bleiben wir einen Moment mitten im Weg stehen. Wir erkennen links von uns die Bar und schlängeln uns durch ein Meer von Passagieren in Badekleidung bis zur Theke. Gerade werden zwei Barhocker frei. Wir nutzen die Gelegenheit und lassen uns darauf nieder.
Hinter der halbrunden Bar wuseln drei Roboter in Menschengestalt. Mit gekonnten Bewegungen arbeiten sie hereinkommende Bestellungen der ständig wechselnden Gäste ab. Sie verziehen keine Miene.
Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Fasziniert blicke ich auf die endlose Menge von Sonnenliegen, die in einem Abstand von vielleicht 10 cm zueinander den Boden wie ein Teppich bedecken. Alle Liegen sind belegt. Oft von Menschen, deren ästhetische Sensibilität entweder für Körperform oder für Kleidung – manchmal auch für beides – im Laufe ihres Lebens abhanden kam. Einige von ihnen stehen an der Bar und konzentrieren sich dort auf die Beschaffung eines kalten Getränkes. Sie programmieren die Bar-Roboter mit knappen Kommandos. Die Anweisung „Zwei Bier“ weicht dabei der üblichen deutschen Grammatik ganzer Sätze mit Subjekt, Prädikat und Objekt. Die Mimik der Bar-Roboter verrät, dass ganze Sätze oder gar Freundlichkeiten sowieso nicht auf fruchtbaren Boden stoßen würden.
Jeder, der nicht gerade mit dem Warten auf seine Getränke beschäftigt ist, versucht durch geschicktes Positionieren die Aufmerksamkeit eines Bar-Roboters zu erhaschen. Der Rest fummelt mit einem Smartphone herum. Hin und wieder hellen sich die Gesichter der Smartphone-Fummler auf. Ein kurzes strahlendes Lächeln hält für den Bruchteil einer Sekunde an – genau so lange, bis das Selfie mit Cocktail oder irgendeinem urlaubsmäßig adaptierbaren Hintergrund im Kasten ist und in der digitalen Welt von WhattsApp, Facebook oder Instagram versenkt werden kann.
Der Lautsprecher schiebt sich nun in meine Wahrnehmung. In all dem Getöse aus Musik, Wortfetzen und Geschrei verkündet eine bemüht sympathische Stimme die Möglichkeit, beim baldigen Bingo Spiel 4.000,- EUR zu gewinnen und die Gelegenheit, heute Abend einer Musical Darbietung im Theatrium beizuwohnen.
Ich frage mich, ob irgendjemand der Anwesenden in der Lage wäre, fünf Minuten – nur FÜNF Minuten – in vollständiger Stille zu ertragen. Ich glaube es nicht.
Wir ziehen uns zurück in den Wellnessbereich. Die Saunen sind leer und auch die Ruhebereiche laden zum Verweilen ein.
Nach angenehmen Stunden mit guten Büchern machen wir uns in unserer Kabine fit für´s Abendessen.
Am Eingang des Restaurants werde ich diskriminiert. Ein netter Mann in weißer Uniform weist mich drauf hin, dass für Herren das Einnehmen des Abendessens nur mit langer Hose gestattet ist. Ich frage nach dem Grund, denn bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich im Spiegel als gepflegte Person wahrgenommen. Sicher, meine Beine haben keine Dressman-Qualitäten, aber mein Beinkleid signalisiert eine gewisse Fähigkeit zur Auswahl gesellschaftlich akzeptierter Verhüllung. Der nette Herr erklärt die Anforderung mit einem klassischen, „Ich-finde-es-auch-doof-aber-was-soll-ich-machen-Satz“: „Das ist eine Anweisung von der Geschäftsführung.“ Ungewollt begibt er sich damit auf meinen Lieblings-Kriegsschauplatz. Ich freue mich und frage ihn, ob er auch auf einem Bein stehen würde, wenn sein Chef ihm diese Anweisung gäbe? Er antwortet mit einem knappen „Ja!“. Ich bin etwas sprachlos, komme aber rasch zurück in meine verbale Kraft. Ich mache ihm einen Vorschlag, den er nicht ablehnen kann: „Wenn Sie mir erklären, warum das Tragen langer Hosen nur für Männer, aber nicht für Frauen und Kinder gilt, dann gehe ich sofort in die Kabine und ziehe mich um.“ Ohne die Antwort abzuwarten begebe ich mich in den Strom Teller tragender Gäste, die wie Kugeln in einem Flipperautomat zwischen den einzelnen Buffets hin und her pendeln.
Als ich nach kurzer Zeit verstanden habe, dass es im Restaurant ähnlich zugeht wie auf dem Sonnendeck und ich mir eine slalomartige Fortbewegung mit wachsamem Radarblick angeeignet habe, gelingt mir das Beschaffen und Transportieren der dargebotenen Speisen zum ausgewählten Sitzplatz ohne weitere Zwischenfälle.
Vom Wahnsinn während der Essenzeiten und den sehr kurzen Aufenthalten auf dem Sonnendeck mal abgesehen, gestaltet sich die Kreuzfahrt als eine attraktive Möglichkeit in kurzer Zeit weit entfernte Orte zu besuchen und einen kleinen Eindruck von ihnen zu bekommen. Dringend notwendig ist dazu allerdings der komplette Verzicht auf die angebotenen „Ausflüge“, die für völlig überzogene Preise zu diversen durchgetakteten Aktivitäten verführen sollen. Wir entscheiden uns, jeweils zu Fuß oder mit örtlichen Verkehrsmitteln auf Entdeckungstour zu gehen. Entspannt genießen wir das Laufen ohne nervige „In-20-Minuten-treffen-wir-uns-am-Bus-Kommandos“ und entziehen uns der Berieselung mit geschichtlichen Fakten, die spätestens am nächsten Tag von relevanteren Informationen im Gedächtnis überschrieben werden.
Wir genießen die Momente der Zweisamkeit, die wir uns abends auf einem der Decks oder auf unserem Balkon beim Blick in den nächtlichen Sternenhimmel schaffen.
Am Ende unserer Reise dürfen wir noch einmal Venedig erkunden. Unsere Lieblingsstadt, in der wir schon vier Mal waren und viele Nächte verbracht haben. Auch dieses Mal entdecken wir wieder neue Ecken – fernab von Markusplatz und Rialto. An den Hotspots haben wir das Gefühl, dass der Tourismus weiter zugenommen hat. Wo führt das hin? Haben die Verantwortlichen genügend Feingefühl für die Erhaltung der Stadt? Ich weiß es nicht. Mir wird jedenfalls schlecht, als ich im Hafen von Venedig gleichzeitig sechs Kreuzfahrtschiffe liegen sehe. Ich selbst habe nun dazu beigetragen, diesen Wahnsinn zu unterstützen. Immer wieder haben wir uns darüber unterhalten und festgestellt, dass es uns nicht gut damit geht. Unseren Plan, irgendwann eine Kreuzfahrt in der Karibik zu machen, haben wir endgültig verworfen. Als Ausgleich für unsere Flüge und die Kreuzfahrt haben wir in Umweltprojekte investiert. Es fühlt sich wie Ablasshandel an, aber wenigstens können wir so einen kleinen Beitrag leisten, den angerichteten romantischen Wahnsinn zu kompensieren. Ein sehr fader Nachgeschmack bleibt. Damit muss ich leben.